Bericht 2015

Sommerdiskurs aus Wirtschaft, Recht und Kultur 2015: Europa - Die pragmatische Utopie

5.-7. August 2015 | Strobl/Wolfgangsee

 

 

Severin Kietaibl, Michael Mathiaschitz, Nathalie Neumayer, Stefan Potschka, Julius Schumann, Antonia Walter

“Europa – die pragmatische Utopie” – unter diesem Generalthema stand der (mittlerweile achte) Sommerdiskurs aus Wirtschaft, Recht und Kultur 2015 am Wolfgangsee. Nach einführenden Worten von Univ.-Prof. Dr. Franz-Stefan Meissel (Sommerhochschule der Universität Wien) widmete sich die Politologin Univ.-Prof. Dr. Sylvia Kritzinger dem Einfluss der öffentlichen Meinung auf die EU und ihre momentanen Krisensymptome. Mit dem Ende des "Permissive Consensus" gehe verstärkter Euroskeptizismus einher, wobei sich auch die politische und wirtschaftliche Lage eines Staates auf die Einstellung der jeweiligen Bürger zur Union auswirke. Der kritische Befund lautet somit, dass sowohl hinsichtlich Effizienz als auch Legitimität des EU-Projekt zur Zeit Ernüchterung vorherrscht.

Als zweite Vortragende beschäftigte sich die Vizepräsidentin des European Law Institute Univ.-Prof. Dr. Christiane Wendehorst mit "Shopping without Borders- A Vision of the European Consumer". Sie erläuterte dabei die Paradigmenwechsel im europäischen Konsumentenschutzrecht, das seinen Fokus stärker vom Verbraucherschutz zur Wettbewerbsförderung auf Unternehmensseite legt, um cross border trading anzukurbeln und so auch mehr Auswahl für die KonsumentInnen herbeizuführen. In der anschließenden Podiumsdiskussion ging die vormalige OGH-Präsidentin Hon.Prof. Dr. Irmgard Griss auf die Vorteile und Funktionsweise der Schlichtungsstelle für Verbrauchergeschäfte als ein Beispiel einer für die Verbraucher und Unternehmen förderlichen EU-Initiative ein, während die AK-Konsumentenleiterin Mag. Gabriele Zgubic-Engleder die zahlreichen, oft übersehenen Vorteile der EU im Konsumentenbereich hervorhob und sich zugleich skeptisch zur derzeit forcierten Maximalharmonisierung äußerte. Der Logistiktopexperte Dipl- Ing. Gerhard Gregori (Post AG) brachte die unternehmensseitige Sichtweise ein, sprach über den sich rapide entwickelnden "world consumer" und warnte vor der Abwanderung von Kaufkraft. Der Europarechtler Hon.-Prof. Dr. Bernhard Schima beleuchtete das Thema aus der Warte der EU-Kommission und wies dabei insbesondere auf die – trotz der bisher begrenzten praktischen Bedeutung – auf die relativ hohe Akzeptanz der EU-Bürgerschaft unter den Unionsbürgern als Beispiel eines durchaus auch affektiven, wenn auch diffusen Konsenses hin. Die anschließende lebhafte Diskussion beschäftigte sich u.a. mit der Selbstwahrnehmung Europas und der Konstruktion einer europäischen Identität.

Das Generalthema des Sommerdiskurses affirmativ aufgreifend, plädierte die Chefredakteurin und Co-Herausgeberin von Der Standard und standard.at Dr. Alexandra Föderl-Schmid für den Mut zu mehr Utopie in Europa und einem bewussteren Umgang mit den Chancen von „Mehr Europa“. Zugleich kritisierte sie den Fokus des öffentlichen Diskurses auf vermeintliche Probleme, wie die Krümmung von Gurken oder Glühbirnenverbote. Rechtliche Grundlagen und Grenzen, aber auch ökonomische Kalküle zur Solidarität in der Währungs- und Wirtschaftsunion standen sodann im Zentrum des Vortrages von Univ.-Prof. Dr. Robert Rebhahn. Aus der Warte der Ökonomie lieferte Univ. Prof. Dr. Werner Neudeck von der Diplomatischen Akademie Deutungshypothesen zur Erklärung für die zunehmende Euro-Skepsis der öffentlichen Meinung in Europa. Insbesondere bei der Währungsunion sei schon früh in Zweifel gesetzt worden, ob es sich bei der Eurozone um einen „optimalen Währungsraum“ handle, auch wenn bestimmte Ziele wie jene der Geldwertstabilität über längere Zeit in beachtlicher Weise erzielt worden seien.

Die langjährige Spitzendiplomatin und Uniratsvorsitzende Botschafterin Dr. Eva Nowotny betonte die Notwendigkeit einer starken Zusammenarbeit der Staaten Europas gegenüber der internationalen Gemeinschaft: „Es gibt in der EU nur kleine Staaten und solche, die noch nicht wissen, dass sie kleine Staaten sind“.

Auf die Sinnhaftigkeit und die in der öffentlichen Diskussion viel zu wenig bekannten Möglichkeiten der stärkeren militärischen Zusammenarbeit in Europa ging sodann der Leiter des Instituts für höhere militärische Führung Brigadier Mag. Andreas Rotheneder ein. Trotz der kritischen Analyse des Ist-Zustands waren sich viele Redner in der Diskussion (an der sich ua auch Prof. Dr. Thomas Nowotny, Univ.-Prof. Dr. Ursula Kriebaum und Univ.-Prof. DDr. Christian Stadler beteiligten) einig, dass das Gemeinsame in Europa gestärkte werden müsse, dass aber auch eine ehrlichere Diskussion der Problematiken in der Öffentlichkeit nötig sei.

 

Den musikalischen Auftakt zum Sommerdiskurs 2015 lieferte vor zahlreich erschienenem Publikum das EOS-Quartett, bestehend aus Willy Büchler (Violine), Prof. Christian Blasl (Violine), Roman Bernhart (Viola) und Andreas Pokorny (Violoncello). Eos, der Namensgeberin des Quartetts (lateinisch: Aurora), welcher Andreas Pokorny die charmant-wörtliche Übersetzung „morning red“ verpasste, sozusagen untreu werdend, begleiteten die vier Mitglieder der Wiener Symphoniker mit Mendelssohn-Bartholdy, Mozart, Beethoven, Schubert und Dvorak den Strobler Sonnenuntergang.

 

Den zweiten Abend des Sommerdiskurses ließ Dr. Paul Frey, der kaufmännische Direktor des Kunsthistorischen Museums, mit einem höchst erquicklichen „kunsthistorischen Abendgespräch“ zum Thema „Eutopien und Dystopien in der Kunst – Bruegels Turmbau in Nahaufnahme“ ausklingen.
Beginnend mit der Geschichte in der Bibel (Genesis 11.1-9), erklärte Dr. Frey, dass es sich bei Babel in Wirklichkeit um zwei Bauprojekte handelte, nämlich um eine Stadt und um einen Turm (oder um eine Zitadelle – die Übersetzung ist nicht restlos gesichert, der „Turm“ geht auf die Lutherbibel zurück), wobei der Turm seit jeher mehr, ja tatsächlich ausschließliches Interesse entfachte.

Das Thema des Turmbaus zu Babel ist seit dem Mittelalter ein immer wiederkehrendes Motiv, das vor menschlichen, gegennatürlichen Allmachtsanwandlungen zu warnen sucht. So gab es etwa zur Zeit der Reformation eine protestantische und eine katholische Lesart – die Katholiken verstanden den Topos dahingehend, dass jeder Abfall vom wahren Glauben scheitern muss, während die Protestanten in der zum Scheitern verurteilten, gleichsam katholischen Abbildanbetung des Turmes ihren Fokus auf die Schrift gerechtfertigt sahen. Über das 19. Jahrhundert, wo die Sprachverwirrung in den Vordergrund gerückt wurde, erreichte der babylonische Turm das 21.Jahrhundert, wo unter anderem der „Turmbau zu Brüssel“ des Bloggers Shinzon eine Konnotation zum europäischen Projekt aufstellt. Von besonderem Interesse mag sein, dass der Turmbau zu Babel als künstlerisches Motiv ausschließlich nördlich der Alpen behandelt wurde. Durch die Zerstörung des Turms, veranlasst durch die Hybris der Menschen (und vor allem der des Königs Nimrod) von sich alleine aus ins Paradies kommen zu können, nimmt Gott den Menschen die gemeinsame Kommunikation. Ebendiese gemeinsame Kommunikation gelte es, so der Konsens der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Sommerdiskurses, im heutigen Europa zu retten.

Dr. Frey schloss seinen Vortrag mit einigen gemäldebezogenen Denk- und Betrachtungsanstößen und ermunterte die Anwesenden zur genauen Betrachtung des Bildes, was sich die - jungen wie die jung gebliebenen - Zuhörer nicht zweimal sagen ließen.

 

Am Freitag den 7. August fand im Vormittagsprogramm ein prominent besetzter Workshop zum Thema Attraktivität des Standorts Europa sowie Österreich für internationale Talente und Fachkräfte statt. Das Rednerpult trat in hochkompetenter Besetzung auf: MMag. Margit Kreuzhuber, Beauftragte für Migration und Integration in der Wirtschaftskammer Österreich, der Leiter der Stabstelle Jahresgutachten und stellvertretender Geschäftsführer des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Dr. Holger Kolb, der Vorstand des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien, Univ.-Prof. Dr. Walter Schrammel,  Sektionschef Mag. Elmar Pichl, Leiter der Hochschul-Sektion im Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung sowie Dr. Michael Stampfer, Geschäftsführer des Wiener Wissenschaft-, Forschungs- und Technologiefonds.

Beleuchtet wurden sowohl österreichische Maßnahmen, um internationale Talente anzulocken, als auch europäische Instrumente, um die Migration von Fachkräften aus Drittländern in die Union zu ermöglichen. Die Situation in Deutschland, welches zumindest im Vergleich zu Österreich weit erfolgreicher internationale, hochqualifizierte Arbeitskräfte anzieht, wurde ebenso beleuchtet wie die bedeutende Thematik der arbeits- und sozialrechtlichen Absicherung der ArbeitsmigrantInnen.

Die Vortragenden referierten einerseits Erfolge von bereits realisierten Programmen, sparten jedoch auch nicht mit Kritik, wie etwa die für Europa unvorteilhafte Realität, dass es gegenüber anderen Weltregionen (insbesondere Nordamerika) in punkto Attraktivität für hochqualifizierte Migranten und Migrantinnen zusehend ins Hintertreffen gerät.

Nach den Vorträgen erfolgte die für das Publikum spannende Aufteilung in Arbeitsgruppen unter Leitung der Podiumsbesetzung. Es war den TeilnehmerInnen somit möglich, in kleinen Arbeitskreisen  in unmittelbaren Kontakt mit den Rednern zu treten und die Materie in privaterem Rahmen zu diskutieren. Anschließend erfolgte die Präsentation und Diskussion der Ergebnisse der verschiedenen Arbeitsgruppen. Der Workshop erlaubte es den TeilnehmernInnen einen spannenden Blick hinter die Kulissen der brandaktuellen Themen von Migration und Standortattraktivität im internationalen Bereich zu werfen. Verbunden mit der hochkarätigen Besetzung des Podiums sowie dem persönlichen Austausch mit den Referenten im Rahmen der Arbeitsgruppen bildete dieser Programmpunkt ein weiteres Highlight des Sommerdiskurses 2015.

 

Den Abschluss des diesjährigen Sommerdiskurses bildete die Podiumsdiskussion unter dem Titel „Von bewegten Bildern, virtuellen Lagerfeuern und digitalen Binnenmärkten: Fernsehen in Europa 2.0“ unter der Moderation von Univ.-Prof. Dr. Nikolaus Forgó. An der Diskussion nahmen Dkfm. Helmut Hanusch von der Verlagsgruppe News GmbH, Dr. Andy Kaltenbrunner vom Medienhaus Wien, Dr. Sonja Sagmeister vom ORF sowie Dr. Maximilian Schubert LL.M. von den ISPA teil.

Eine Einführung in die Thematik erlangten die Zuhörer anhand von vier kurzen Präsentationen von Studierenden, welche einen Überblick über die TV-Märkte in Österreich, Europa, Asien und Australien lieferten. Im Anschluss daran skizzierten die Diskussionsteilnehmer die Herausforderungen, vor denen Fernsehsender angesichts des nahezu uneingeschränkten Zugangs zum Internet sowie der rasanten Verbreitung von Smartphones und Tablets stehen. Diese Entwicklungen sind vor allem bei jüngeren Generationen feststellbar, wohingegen das Konsumverhalten älterer Nutzer durch die neuen Medien deutlich geringer beeinflusst wird. Als Konsequenz lässt sich ein deutlicher Anstieg im Bereich der online- und mobilen Nutzung sowie ein entsprechender Rückgang des „klassischen“ Fernsehens feststellen.

Als Reaktion darauf versuchen nun auch die Fernsehsender mit ihren Inhalten in den modernen Medien Fuß zu fassen. So hat beispielsweise der ORF mit der TVthek und Flimmit entsprechende Plattformen etabliert. Zur Erhaltung der Quoten lässt sich ferner eine gewisse Tendenz von Information hin zur Unterhaltung feststellen. In diesem Zusammenhang wurde die Frage diskutiert, inwieweit sich der Journalismus zu diesem Zweck in seiner Qualität selbst einschränken darf.

Schließlich beschäftigte sich die Diskussion noch mit der Frage, warum derartige Entwicklungen ebenso wie erfolgreiche Startups, wie zB Netflix, regelmäßig aus den USA nach Europa kommen und nicht umgekehrt. Als Gründe wurden insbesondere die hohen Kosten der für den Markteintritt notwendigen Vertragsabschlüsse in den einzelnen Mitgliedsstaaten genannt. Um Europa für die Gründung neuer Unternehmen attraktiver zu machen, bedürfte es daher einer Angleichung der gesetzlichen Regelungen der Mitgliedsstaaten in diesem Bereich.

 

Organisator Franz-Stefan Meissel schloss den Sommerdiskurs mit einem herzlichen Dank an alle Sponsoren und Kooperationspartner, vor allem aber auch an die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Diskurses und die Vortragenden sowie die hervorragende organisatorische Begleitung durch Mag. Nina Gruber und Rebekka Lajos. Resümierend läßt sich feststellen, dass sich das unkonventionelle Format des Sommerdiskurses mit seiner Vielzahl an behandelten Themen auch dieses Jahr wieder hervorragend bewährt hat, um neben der die Tagesnews beherrschenden Krisendiagnostik auch Perspektiven der Weiterentwicklung der EU zu gewinnen.